Auferstehung – mitten im Leben – Eine Osterbotschaft

Ein Beitrag von Rudolf Hubert, Referent für Caritaspastoral, Caritas im Norden, Schwerin

Es ist Krieg

Es ist Krieg, mitten in Europa. Krieg gibt es in der Ferne und in der Nähe. Doch besonders dann, wenn er uns buchstäblich ‚auf der Haut brennt‘, geht er uns auch nahe, geht er uns an. Sonst ist er zumeist weit weg, fast wie in einer virtuellen Welt. Wir sind meistens dabei nur Zuschauer.

Nicht so beim Angriffskrieg der russischen Machthaber mit ihrer Soldateska in der Ukraine, mitten in Europa, ganz nahe bei uns. Die Bomben, die Raketen und Granaten bedrohen und treffen liebe Menschen, die wir kennen. Das verändert alles. Und es wirft Fragen auf, alte Fragen, neue Fragen.

„Gott, wie kannst du das nur zulassen? Du bist der ‚gute‘, der ‚liebe‘ Gott? Gibt es dich überhaupt?

Und Zyniker wenden sich ab mit einer Floskel, die nur mühsam die tiefe Enttäuschung verbergen kann: „Wer‘ s glaubt, wird selig.“. Die zumeist geringschätzige Wegwerfbewegung zeigt den Grad der Verbitterung an.

Was ist wirklich wesentlich?

Wenn ich heute jüngeren Mitarbeitenden etwas von der Caritas erzähle – beispielsweise bei den Einführungstagen –  dann gibt es etliche Formalien, die es zu beachten gilt und die erläutert werden müssen: Die Grundordnung des kirchlichen Dienstes, die AVR, die MAVO, die Satzung des Trägers, der Sendungsauftrag des Bischofs, das Organigramm des Trägers, die Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten innerhalb des Bistums und des Verbandes, die  Leitsätze Pastoraler Räume, der Pastorale Orientierungsrahmen, das jüngste Hirtenwort des Bischofs, derzeit besonders auch seine Initiative für die Ukraine – Hilfen usw. usf. Das alles sind auch nicht nur formelle Aspekte. Sie beinhalten gewichtige inhaltliche Aussagen. Denn das alles macht unsere, die kirchliche Caritas aus.

Doch fragen wir noch tiefer, fragen wir existentiell: Was ist wirklich wesentlich? Was ist unsere DNA? Was macht sie aus, unsere Corporate Identity? Wie kann man sie vermitteln, ohne stupide Regelwerke aufzuführen und zu zitieren? Und wie kann man glaubwürdig sein, wenn buchstäblich alle Gewissheiten sich aufzulösen scheinen?

Ich glaube, wir kommen aus diesen Schwierigkeiten nur heraus, wenn wir die ‚objektive Sprachebene‘ verlassen und die eigene Betroffenheit in‘ s Wort bringen. Wo wir Persönliches preisgeben, wo wir uns so offen geben, dass wir auch verletzbar sind.  Wo wir selber mit unseren Schwierigkeiten und Nöten, Fragen und Hoffnungen ‚in‘ s Spiel kommen‘. Erst dann haben wir vielleicht eine Chance, nicht nur gehört zu werden. Vielleicht nimmt man uns dann unser Zeugnis für den Glauben auch ab, weil es unser Lebenszeugnis ist. Mir hilft darum bei all diesen Fragestellungen eigentlich nur etwas, was ich in der Theologie gelernt habe. Dort spricht man von ‚narrativer Theologie‘, also von Erzählungen, die einen Kern zum Leuchten bringen. Darum spreche ich auch gern von ‚narrativer Caritas‘. Es sind Erzählungen, die – weil sie oft sehr persönlich gefärbt sind –  vielleicht gerade deshalb authentisch sind und das Eigentliche plastisch vor Augen stellen (können).

Hinweisen könnte ich auf sehr viele Zeugnisse des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe im Alltag. Wir wissen aus unserem Glauben, dass überall dort, wo Menschen einander Gutes tun, das realisiert wird, was wir Christen – oft mühsam – als Glaube und als Hoffnung zu beschreiben versuchen. Mühsam deshalb, weil die Welt, wie wir sie auch heute wieder erleben, geprägt ist von den unterschiedlichsten Erfahrungen, wo das Gute oft auf der Strecke bleibt, wo die Wahrheit nicht selten als Dummheit hingestellt wird und wo Nachgeben und Toleranz nicht selten als Feigheit und Schwäche denunziert werden. Doch es gibt eben auch – und zwar überall, wenn man nur mit sehenden Augen durch die Welt geht – kleine, oft unscheinbarer Zeichen der Hoffnung. Oft wider alle Hoffnung.

Wenn ich bei uns, bei der Caritas bleibe, dann denke ich beispielsweise an ein kleines ‚Andachtsprojekt‘ im Alten- und Pflegeheim St. Hedwig in Wittenburg. Es war und ist ein Hoffnungszeichen in der schweren Zeit der Corona-Pandemie und bei all den Einschränkungen, die ja vielfach – notgedrungen – auch heute (noch) in Kraft sind, wenn sich Menschen zusammenfinden, die in all ihrer Schwäche und Gebrechlichkeit eine Kerze anzünden, Gebete sprechen, ein Lied singen oder still sind und einfach schweigend beieinanderbleiben. Sie leben aus der Gewissheit, dass die Gemeinschaft trägt – über alle Widrigkeiten hinweg.  

Hinweisen könnte ich auf die umfangreiche, nicht ungefährliche aktuelle Hilfe für die Ukraine, einschließlich der jahrelangen Kontakte und Unterstützungen und auch die Pflege unserer Partnerschaft über Ländergrenzen hinweg. Hinweisen könnte ich auf all die vielen Helferinnen und Helfer, die Spenden sammeln, die sich immer wieder hinstellen, um – wie es so schön heißt – ehrenamtlich mitzuhelfen, Nöte zu lindern. In Wirklichkeit setzen sie Zeit, mitunter Geld und all ihr Wissen und Können oft dort ein, wo andere Hilfen nicht mehr hinkommen oder ausreichen.

Es gäbe sehr viele gute Beispiele, die zeigen können: Ach so, das also ist gemeint, wenn von Caritas die Rede ist. Und – das mögen wir bei all dem nie vergessen – ‚Caritas‘ gibt es nicht nur in verbandlicher oder in gemeindlicher Form. Es wäre tragisch, wenn die Caritas in den Gemeinden und ‚Orten kirchlichen Lebens‘ ihr Eigentliches nicht leben würde. Doch es gibt – Gott sei Dank – so viele Taten der Hoffnung und der Liebe –  auch dort, wo wir es nicht vermuten oder wo es ganz anders benannt wird –  dass wir uns immer wieder selber auch daran aufrichten und orientieren können.

Unser Osterglaube ist keine Fata Morgana

Ich möchte von zwei Erlebnissen berichten, die in meinem beruflichen Leben zu den ‚Sternstunden‘ zählen und die es mir möglich gemacht haben, auch Zeiten auszuhalten und zu gestalten, die ich eher als schwierig bezeichnen würde und die es überall und immer auch gibt. Es sind Erlebnisse, die mir zur Gewissheit wurden, dass unser Osterglaube keine Fata Morgana ist, dass Auferstehung sich mitten im Leben ereignet.

Gleich nach der Wende, zu Beginn der 90iger Jahre des vergangenen Jahrhunderts – die Strukturen waren alle noch sehr ‚flüssig‘ und nicht etabliert – kam es in Schwerin zu einer für mich sonderbaren Situation. Ein so genanntes ‚Elternseminar‘ – ein Treffen für und mit Eltern von geistig-behinderten Kindern und Jugendlichen, ca. 30-40 Personen – traf sich regelmäßig im evangelischen Kinderkrankenhaus in Schwerin, im legendären Anna-Hospital. Aus den alten Bundesländern kamen nach der politischen Wende schnell auch andere Verbände der Freien Wohlfahrtspflege und versuchten, hier bei uns ‚Fuß zu fassen‘. So auch die ‚Lebenshilfe‘, die u.a. derzeit Träger der Dreescher Werkstätten ist. Sie erzählten den Eltern etwas von einer Vereins – Satzung, von E.V., von Mitgliedschaft im DPWV usw. Alles ‚böhmische Wälder‘, das meiste davon unbekannt.  Alles fühlte sich irgendwie fremd an, neu.

Und dann kam der Tag der Gründung des Eingetragen Vereins.  Ich leitete seinerzeit noch das ‚Elternseminar‘ und einige Eltern kamen auf mich zu mit der Frage:

Herr Hubert, wir wissen doch gar nicht, wie das alles geht. Können Sie uns nicht helfen und die Versammlung leiten?

Eine Versammlung konnte ich zwar leiten, aber für mich war ja auch alles Verbandliche Neuland – zumindest in der Praxis. Was also tun? Ich ging mit dieser Anfrage, die mich umtrieb, zu meinem Chef, der kurz und bündig, rein pragmatisch reagierte, als ich ihm sagte:

„Hör bitte zu, die Eltern möchten, dass ich die Versammlung leite, aus der ein anderer Verband hervorgehen wird. Das geht doch gar nicht, oder? Was meinst du?“

Ich war ziemlich ratlos, doch er schaute mich nur kurz an, dann fragte er mich – und nie werde ich seine Frage und die sich daraus ergebende Konsequenz vergessen:

„Brauchen die Leute Deine Hilfe, ja oder nein?“

 Ich war verdutzt und sagte:

„Ja, natürlich, sonst wären sie doch nicht zu mir gekommen.“

Darauf seine Antwort: 

„Dann verstehe ich deine Frage nicht.“

O.K., das hatte ich verstanden. Und zwar für mein ganzes weiteres Leben. Denn alles andere wäre in dieser Situation im wörtlichen Sinn die Verweigerung einer notwendigen (um die Not zu wenden!) Hilfeleistung.

So ähnlich geht es mir auch jetzt: Da fragt die Kommune an, wer helfen kann angesichts der vielen Flüchtlinge. Viele Gespräche wurden und werden geführt in einer Situation, die für alle Beteiligten schwierig ist und noch schwieriger zu werden droht.

Die Frage ist:

Kannst du uns behilflich sein, jetzt, hier vor Ort?  Ob und wie etwas finanziert wird, ob das mit den angedachten Stunden reicht, all das ist noch nicht ganz klar. Vieles ist uns noch völlig unklar, aber wir brauchen deine Hilfe. Wir brauchen sie jetzt!“

 Und dann trägerseitig die rasche Zusage mit dem bemerkenswerten Schlusssatz:

Das „Finanzielle“ sollten wir natürlich auch besprechen. Da für uns diese Frage nicht im Vordergrund steht und ich überzeugt bin, dass wir eine einvernehmliche Lösung finden, können wir die Zusammenarbeit von unserer Seite aus gerne vor einer abschließenden Klärung dieser Frage beginnen.“

Das ist Caritas. Natürlich brauchen wir finanzielle Mittel und natürlich müssen wir mit ihnen sorgsam und verantwortlich umgehen. Aber sie haben nicht die oberste Priorität! Finanzen, Strukturen, Verwaltung – all das ist wichtig, erforderlich. Aber sie haben allesamt dienenden Charakter.

Diese Lektion werden auch jüngere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, wenn ich ihnen davon auf Einführungstagen und bei anderen Gelegenheiten erzähle, wohl nicht vergessen. Solch eine Erzählung ist zudem wichtig –  und zwar als Selbstvergewisserung –  denn es kommen Zeiten, in denen über Geld gestritten werden muss, über Strukturen, über Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten.  Es muss um der Sache willen gestritten werden – anders geht es nicht, weil unterschiedliche Interessen einen gerechten, fairen Ausgleich brauchen. Und genau dann braucht es sichere Orientierung, um nicht zu vergessen, warum gestritten wird, um was es eigentlich immer geht, zumindest immer gehen sollte.  Da sind unzweideutige Richtungsanzeigen wichtig. Richtungsanzeigen, wie wir sie heute als Caritas auch geben und  gegeben haben. Nicht, weil wir uns hervortun wollen, sondern schlicht, weil Hilfe erforderlich – und darum geboten ist!

Was uns Hoffnung gibt

Wir leben heute in einer ‚Zeitenwende‘, wie es oft in politischen Medien beschrieben wird. Für Christen ist es keine neue Erkenntnis, denn seit Ostern, seit der Auferstehung Jesu leben wir in einer ‚Zeitenwende‘. Wir dürfen als Christen unser eigenes Kapital nicht verscherbeln oder ‚unter Wert verkaufen‘. „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ sind eigentlich säkulare Ableger dessen, was Christen in die Welt bringen sollen. Und „Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“ sind urchristliche Anliegen, sie sind unsere DNA, freilich  hinter deren Umsetzung wir als Kirche, als Caritas oft genug auch zurückbleiben. Darum sind Hoffnungszeichen, Geschichten von Liebe und Hoffnung so unerlässlich. Sie sind wie eine ‚Wegzehrung‘, wie eine Nahrung, die uns hilft, weiter zu gehen, auch durch Wüsten und Dürren hindurch.

Wir dürfen gewiss sein: Ostern wird sich ereignen, auch bei uns, im Hier und Heute.  Aber die Osterfreude kann die vielen Karfreitage, die vielen Vergeblichkeiten und all das Mühsame nicht einfach aus der Welt schaffen. Ostern ist keine Realitätsverweigerung sondern ist die Hoffnung, dass das letzte Wort in Gottes Schöpfung ein Wort der Liebe sein wird. Liebe, die bleibt, die Gemeinschaft stiftet, die trägt und befreit. Liebe, die ermächtigt zu einer Hoffnung – oft auch wider alle Hoffnung! Das Wesen des Christen, das Wesen der Caritas kann man in den drei Worten zusammenfassen: Dankbarkeit, Gemeinschaft und hoffende Liebe. Das Wissen von Ostern ist das Wissen darum, dass all das Mühen, all das Gute, auch all die Sorgen und Nöte ‚aufgehoben‘ werden und ‚aufgehoben‘ sind. Sie bleiben, sie werden weder verdrängt noch geleugnet. Sie gehören zu uns, sie sind unsere Realität, die vollendet wird– wie die Christen es umschreiben – „am dritten Tag.“

Darum möchte ich meinen Osterglauben mit einem existentiellen Glaubenszeugnis beschließen, das nach eigener Bekundung ein  „geistliches Testament“[1] darstellt.

<< Wird es einmal Menschen geben, die grundsätzlich und in jeder Phase ihrer Existenz kein Ohr mehr haben für das Wort: Gott? Wird es einmal Menschen geben, die nicht mehr über dieses und jenes Fragbare in seiner endlosen Vielfalt hinaus nach dem Unsagbaren fragen? Wird es einmal Menschen geben, die sich immer und mit wirklichem Erfolg verbieten, das Geheimnis schlechthin nahe sein zu lassen, das als Eines und Umfassendes, als Urgrund und Urziel namenlos in ihrem Dasein waltet; das gibt, das wir liebend, „Du“ sagend, uns in seinen Abgrund fallen lassen und so frei werden können…

Man kann auch in Zukunft von Gott sprechen, wenn man wirklich versteht, was mit diesem Wort gemeint ist, und es wird immer eine Mystik und Mystagogie der unsagbaren Nähe dieses Gottes geben, der das andere von sich geschaffen hat, um sich selber ihm in Liebe als ewiges Leben zu schenken.  Die Menschen werden immer angeleitet werden können, die endlichen Götzenbilder, die an ihren Wegen stehen, zu stürzen oder gelassen an ihnen vorbeizugehen, nichts absolut zu setzen, was ihnen als Mächte und Gewalten, als Ideologien, Ziele und Zukünfte einzelner und bestimmter Art begegnet, „indifferent“, „gelassen“ zu werden und so in dieser nur scheinbar leeren Freiheit zu erfahren, was Gott ist…

Es wird immer Menschen geben…die im Blick auf Jesus den Gekreuzigten und Auferstandenen es wagen, sich an allen Götzen dieser Welt vorbei auf die Unbegreiflichkeit Gottes als Liebe und Erbarmen bedingungslos einzulassen. Es wird immer Menschen geben, die in diesem Glauben an Gott und Jesus Christus sich zur Kirche zusammentun, sie bilden, sie tragen und sie – aushalten.>>[2]


[1] Karl Rahner „Bekenntnisse“, Wien-München 1984, S. 58

[2] Karl Rahner „Schriften zur Theologie“, XV, S. 407 f

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